Wiederverwendet, nicht festverdrahtet: Wie unser Gehirn Intelligenz zusammensetzt.

Was, wenn das Gehirn keine Ansammlung spezialisierter Module ist, sondern ein Baukasten flexibler Funktionsblöcke – ständig neu kombiniert und wiederverwendet? Die Theorie der Neuralen Wiederverwendung stellt unser Verständnis von Intelligenz auf den Kopf. 

Der Mythos vom Modul

Lange Zeit dachten wir über das Gehirn wie über einen Werkzeugkasten: Hier das Sprachmodul, dort das Gedächtnismodul, daneben ein Areal für Zahlen, eines für Musik und so weiter. Diese Vorstellung, teils aus der klassischen Neuropsychologie, ist eingängig – aber irreführend.

Neurowissenschaftler Michael L. Anderson schlägt ein anderes Modell vor: unser Gehirn ist kein starrer Bauplan, sondern ein dynamisches Netzwerk wiederverwendeter Funktionseinheiten. Seine These:

 Intelligenz entsteht nicht durch Spezialisierung, sondern durch Rekombination. 

 Neural Reuse – das Prinzip intelligenter Recyclinglogik

Die sogenannte Neural Reuse Theory (Theorie der neuronalen Wiederverwendung) geht davon aus, dass bestehende neuronale Netzwerke mehrfach verwendet werden – in verschiedenen kognitiven Kontexten.
Das bedeutet konkret:

  • Ein und dieselbe Region des Gehirns kann an Sprache, Bewegungsplanung und Rechnen beteiligt sein.

  • Evolutionär ältere Hirnareale werden von neuen Funktionen einfach „mitbenutzt“ – ohne dass sie ihre ursprüngliche Funktion verlieren.

Diese Idee widerspricht dem modularen Denken – und erklärt gleichzeitig, warum unser Gehirn so effizient ist.

Ein Beispiel: Zahlen im Körper

Weitgehend unbekannt ist, dass dieselben Hirnareale, mit denen wir unsere Finger bewegen und spüren, auch bei Zahlenverarbeitung aktiviert werden.

Kinder lernen Zahlen häufig über ihre Finger – „eins, zwei, drei...“ mit den Fingern abzählend. Anderson und Kollegen zeigen: Dieses körperbasierte Zählen prägt die neuronale Struktur. So teilen sich Mathematik und Motorik ein und denselben „neuronalen Raum“.

 Intelligenz als emergente Struktur

Anderson spricht von der sogenannten "Massive Redeployment Hypothesis". Demnach sind viele, wenn nicht die meisten kognitiven Prozesse das Produkt wiederverwendeter neuronaler Bausteine.
Das bedeutet:

  • Intelligenz entsteht durch Netzwerkbildung, nicht durch feste Module.

  • Multifunktionalität ist die Norm, nicht die Ausnahme.

  • Unsere mentalen Fähigkeiten beruhen auf interagierenden Subsystemen, die flexibel kombiniert werden – je nach Situation, Aufgabe, Kontext.

 Was heißt das für KI, Lernen, Rehabilitation?

Die Theorie hat weitreichende Implikationen:

  • Künstliche Intelligenz:
    KI-Architekturen könnten von dieser Wiederverwendungslogik profitieren – weg von monolithischen Modellen, hin zu rekombinierbaren „Funktionseinheiten“.

  • Pädagogik & Lernen:
    Lernprozesse sollten bewegungsnah, sensorisch reich und kontextuell flexibel gestaltet werden – denn das Gehirn lernt durch Verknüpfung, nicht durch Einordnung.

  • Rehabilitation nach Hirnschäden:
    Die Wiederverwendbarkeit neuronaler Netzwerke erklärt, warum andere Hirnareale Funktionen übernehmen können – ein Hoffnungsschimmer für Therapieansätze.

Intelligenz ist Recycling auf höchstem Niveau?

Michael Andersons Theorie lädt uns ein, das Gehirn neu zu denken: Nicht als starre Maschinenarchitektur, sondern als Netzwerk recycelbarer, intelligenter Bausteine.

In einer Welt voller Wandel ist es vielleicht genau diese Wiederverwendbarkeit, die unser Denken so anpassungsfähig macht.
 
 Lust auf mehr? 
  • Anderson, M. L. (2010): Neural Reuse: A Fundamental Organizational Principle of the Brain

  • Anderson, M. L. (2014): After Phrenology – Neural Reuse and the Interactive Brain

  • Artikel: Cambridge BBS – Precis of After Phrenology

 

 

 

 

 

 

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