Der Neokortex und die Thousand Brains Theory: Viele kleine Gehirne, ein großer Verstand
Der Neokortex – diese paar Millimeter dicke Zellschicht auf der Oberfläche unseres Gehirns – ist der Ort, an dem das passiert, was wir als "menschlich" bezeichnen: Sprache, logisches Denken, Vorstellungskraft. Lange war es ein Rätsel, wie dieser relativ einheitlich gebaute Teil des Gehirns so viele verschiedene Dinge leisten kann.
Doch eine Theorie bringt Klarheit – und sie klingt fast zu elegant, um wahr zu sein.
Die Idee: Viele kleine Gehirne
Die sogenannte Thousand Brains Theory, entwickelt von Jeff Hawkins und dem Team bei Numenta, schlägt Folgendes vor: Unser Gehirn besteht nicht aus einem einzigen Denkzentrum, sondern aus rund 150.000 kleinen Modulen – den kortikalen Säulen. Jede einzelne davon lernt, modelliert und versteht einen Teil der Welt für sich. Diese Mini-Gehirne arbeiten parallel und stimmen sich laufend ab.
Statt also eine zentrale Steuerung zu haben, gleicht der Neokortex eher einem dezentralen Schwarm. Und dieser Schwarm erzeugt das, was wir als eine zusammenhängende Wahrnehmung erleben – durch einen Mechanismus, der an eine Art neuronales „Abstimmen“ erinnert.
Die sechs Schichten der Intelligenz
Was macht diese Theorie so spannend? Sie ist nicht nur ein Denkmodell – sie lässt sich auch auf die Anatomie des Gehirns abbilden. Jede kortikale Säule besteht aus sechs Schichten:
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Schicht 4 empfängt die sensorischen Daten (Was ist da?)
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Schicht 6 verarbeitet die eigene Position im Raum (Wo bin ich?)
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Schicht 5 steuert Bewegung und liefert die „Motorbefehle“
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Schichten 2/3 kombinieren all das zu einem vollständigen Modell (Objekte, Gedanken, Konzepte)
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Schicht 1 enthält nur wenige Zellkörper, aber viele Verzweigungen: die Dendriten – das sind die weit verzweigten Fortsätze von Nervenzellen, über die sie Signale empfangen. Hier laufen viele Eingangssignale aus anderen Schichten und Säulen zusammen – ein neuronales Vorbereitungslager für Erwartung, Vergleich und Vorhersage.
Das Entscheidende: Diese Schichten arbeiten nicht isoliert. Sie formen einen geschlossenen Lern- und Vorhersagekreislauf. Jede Bewegung – ob eine Hand in der Dunkelheit oder eine gedankliche Richtungsänderung beim Problemlösen – erzeugt Erwartungen. Und jede Wahrnehmung wird mit diesen Erwartungen abgeglichen.
Von Kaffeetassen und Konzepten
Ein klassisches Beispiel: Du greifst im Dunkeln nach einer Kaffeetasse. Dein Daumen fühlt einen geschwungenen Griff, dein Zeigefinger eine runde Kante. Beide liefern Daten an ihre jeweiligen Säulen. Diese haben mehrere Hypothesen parat – Tasse, Teekanne, Weinglas? Doch nur die Kaffeetasse passt zu beiden Signalen gleichzeitig. Die Theorie sagt: Durch neuronales "Voting" einigen sich die Spalten blitzschnell auf genau dieses Objekt.
Und dieses Prinzip lässt sich auf alles übertragen – auch auf abstraktes Denken. Wenn du ein mathematisches Problem löst oder ein Argument strukturierst, „bewegst“ du dich durch einen geistigen Raum. Die Säulen arbeiten dabei mit denselben Mechanismen: Wahrnehmung, Bewegung, Erwartung, Bestätigung.
Warum das wichtig ist
Diese Theorie liefert nicht nur ein Modell für biologisches Denken – sie ist auch eine Blaupause für künstliche Intelligenz. Wenn wir verstehen, wie das Gehirn generalisiert, plant und vorhersagt – nicht durch starre Logik, sondern durch tausend kleine flexible Modelle –, können wir KI-Systeme bauen, die ähnlich lernen wie wir.
Und vielleicht verstehen wir uns selbst ein kleines Stück besser.
Quellen:
Interview & Video von Artaminov (YouTube) über die Thousand Brains Theory, basierend auf der Arbeit von Jeff Hawkins und Numenta.