"The Clash": Ein ideologisches Instrument des Kapitalismus?
I: Der „Clash of Civilizations“ – Samuel Huntingtons Weltbild
Im Jahr 1993 veröffentlichte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington in der Zeitschrift Foreign Affairs einen Artikel, der schnell zum weltpolitischen Diskussionsstoff avancierte: The Clash of Civilizations? Zwei Jahre später folgte das gleichnamige Buch (The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, 1996). Darin vertrat Huntington eine provokante These:
Nach dem Ende des Kalten Krieges seien nicht mehr Ideologien oder Nationalstaaten die Hauptquelle globaler Konflikte, sondern Zivilisationen – also kulturell und religiös geprägte Großräume.
Huntington teilte die Welt in mehrere Hauptzivilisationen ein, darunter:
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die westliche Zivilisation (Europa, Nordamerika)
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die islamische Welt
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die chinesische bzw. sinitische Zivilisation
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die orthodoxe Welt (v. a. Russland)
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sowie weitere wie die hinduistische, lateinamerikanische, afrikanische oder japanische Zivilisation
Er sah insbesondere zwischen dem Westen und der islamischen Welt sowie zwischen dem Westen und China zukünftige Hauptkonfliktlinien. Der Begriff des „Clash“ bezeichnet dabei keinen bloßen Gegensatz, sondern ein strukturelles Aufeinanderprallen von Weltordnungen.
Huntingtons Theorie wurde spätestens nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in weiten Teilen der westlichen Medien und Politik als prophetisch interpretiert. Der globale „Krieg gegen den Terror“, die militärische Besetzung Afghanistans und des Irak, aber auch die sicherheitspolitische Abschottung gegenüber muslimischen Ländern wurden vielfach mit kulturell-religiösen Gegensatzlinien begründet, wie Huntington sie formuliert hatte.
Doch die Theorie blieb nicht unwidersprochen. Kritiker wie Edward Said warfen Huntington einen simplifizierenden Kultur-Essentialismus vor, der komplexe historische, ökonomische und soziale Zusammenhänge auf „Zivilisationslogik“ reduziere. Auch der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen sprach sich gegen die Vorstellung eines einheitlichen Kulturdeterminismus aus und plädierte für ein pluralistisches Verständnis menschlicher Identitäten.
II: Der Clash als ideologische Funktion im Kapitalismus
Was passiert, wenn man Huntingtons These nicht nur als geopolitische Analyse, sondern als ideologisches Produkt innerhalb einer kapitalistischen Weltordnung betrachtet?
1. Ökonomische Ursachen werden kulturell überdeckt
Huntington suggeriert, dass Konflikte vor allem aus kultureller Inkompatibilität entstehen – nicht aus sozialen Ungleichheiten, neokolonialer Ausbeutung oder wirtschaftlicher Unterdrückung. Der Diskurs vom „Clash“ verschiebt den Blick von den materiellen Wurzeln globaler Krisen hin zu vermeintlich unveränderbaren kulturellen Differenzen.
In dieser Logik wird z. B. der Konflikt im Nahen Osten nicht mehr als Folge westlicher Kriegspolitik, ökonomischer Abhängigkeit und Ressourcenkonkurrenz verstanden, sondern als Ausdruck eines „Zivilisationskampfes“. Die kapitalistische Globalisierung erscheint dann nicht als Ursache von Instabilität, sondern als zivilisatorisches Ordnungsprinzip.
2. Legitimierung westlicher Hegemonie
Die westliche Zivilisation wird von Huntington als „fortgeschritten“ und „modern“ dargestellt – also implizit als Maßstab für Fortschritt und Ordnung. Wer sich ihr verweigert oder eigene kulturelle Ordnungen behauptet, wird zum Problemfall. Diese Perspektive stützt die Vorstellung, dass kapitalistische Marktwirtschaft, liberale Demokratie und individuelle Konsumfreiheit universelle Werte seien – und jede Abweichung davon als Bedrohung zu behandeln ist.
Kurz gesagt: Der Clash-Diskurs rechtfertigt die Ausweitung westlich-kapitalistischer Normen als globale Notwendigkeit.
3. Geopolitik als Marktregulierung
In Huntingtons Theorie wird globale Geopolitik nicht als Verteilungskampf um Ressourcen oder Einflusszonen begriffen, sondern als Abwehrkampf kultureller Invasionen. Diese Lesart kommt insbesondere in der US-Außenpolitik zum Tragen: Der Schutz westlicher Märkte, Handelsrouten, Energieversorgung oder technologischer Vorherrschaft erscheint dann als kultureller Selbstschutz.
Dabei wird die militärische und wirtschaftliche Durchsetzung kapitalistischer Interessen als „Verteidigung der Zivilisation“ getarnt.
4. Kultureller Kapitalismus: Werte als Ware
Schließlich dient Huntingtons Denken auch einer Form des kulturellen Kapitalismus, in dem Narrative, Werte und Identitäten zu Ressourcen im globalen Wettbewerb werden. Wer „westliche Werte“ vertritt, erhält Zugang zu Märkten, Investitionen, Entwicklungskooperation. Wer sich verweigert, wird sanktioniert oder isoliert – nicht wegen ökonomischer Systeme, sondern wegen „unvereinbarer Kultur“.
Zusammenfassend:
Quellenverzeichnis
Huntington, Samuel P. (1993): The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs, Vol. 72, No. 3, pp. 22–49.
> https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/1993-06-01/clash-civilizations- Huntington, Samuel P. (1996): The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster.
> ISBN: 978-0-684-84441-1
- Said, Edward W. (2001): The Clash of Ignorance. In: The Nation, October 22, 2001.
Sen, Amartya (2006): Identity and Violence: The Illusion of Destiny. New York: W.W. Norton & Company.
> ISBN: 978-0-393-32819-3Chomsky, Noam (2003): Hegemony or Survival: America's Quest for Global Dominance. New York: Metropolitan Books.
> ISBN: 978-0-8050-7912-8
Zehfuss, Maja (2002): Constructivism in International Relations: The Politics of Reality. > Cambridge University Press.
Hardt, Michael / Negri, Antonio (2000): Empire. Cambridge, MA: Harvard University Press.
> Kapitalismus als globales Machtsystem, das kulturelle Diskurse integriertHarvey, David (2005): A Brief History of Neoliberalism. Oxford: Oxford University Press.
> Kontext zur neoliberalen Globalisierung und kulturellen HegemonieFanon, Frantz (1961): Die Verdammten dieser Erde (frz. Les damnés de la terre). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
> Postkoloniale Perspektive auf Gewalt, Kultur und westliche Dominanz